”Mexican-Rocky” Andy Ruiz Jr. vs. ”Hipster” Anthony Joshua
Als der Underdog Andy Ruiz Jr. am 1.Juni 2019 den bis dahin ungeschlagenen Boxweltmeister im Schwergewicht Anthony Joshua entthronen konnte, war nicht nur die Welt des Boxens geschockt. Wie konnte ein untersetzter und unsportlich anmutender Boxer diesen Vorzeigeathleten aus Großbritannien bezwingen? Eine Frage, die viel mit dem oberflächlichen Leitbild der Menschen zu tun hat. Es wird allgemein erwartet, dass Größe, Kraft und auch Ästhetik alles nicht so perfekt Anmutende beherrschen muss.
Für den Großteil der Box-Fans war daher die Niederlage von Joshua gegen den ”Mexican-Rocky” einfach nur peinlich. Auch große Stars aus dem Film- und Musikgewerbe waren tief betroffen, als seien Michael Jackson und Elvis Presley an ein und dem selben Tag gestorben. Seither wird Joshua mit Spott und Häme überschüttet und der Sieger Andy Ruiz Jr. immer noch nicht von vielen Fans als vollwertiger Athlet angesehen, weil er eben nicht dem Idealbild eines perfekten Boxers entspricht.
Legende Marciano entsprach auch nicht der ”Norm”
Aber gerade das Boxen brachte immer wieder Kämpfer hervor, die jenseits der gewünschten Norm ihre Spuren hinterließen und bis heute unvergessen bleiben. So einer war der Schwergewichtsweltmeister Rocco Francis Marchegiano, der unter dem Namen Rocky Marciano Weltruhm erlangte. Mit einer Körpergröße von gerade einmal 1,79 m kam der ”The Brockton Blockbuster” fast wie ein bulliger Mittelgewichtler daher. Doch während man bis heute Muhammad Ali als den größten Boxer aller Zeiten glorifiziert, gerät der Italo-Amerikaner immer mehr in Vergessenheit. Dabei war Marcianos Kampfbilanz makellos. Er gewann als Profiboxer alle seine 49 Kämpfe. Damit nicht genug, denn unglaubliche 43 Siege durch Knockout runden den Rekord von Rocky Marciano ab. Ein Rekord für die Ewigkeit! Unter seinen Opfern befanden sich viele ruhmreiche Namen, der bekannteste war sicherlich der unvergessene Joe Louis.
”Kung Fu Panda” liebt Erdnussschokoriegel
Andy Ruiz, der den Kampfnamen ”The Destroyer” trägt, aber seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Anlehnung an Sylvester Stallones fiktive Filmfigur Rocky Balboa auch ”The Mexican-Rocky” genannt wird, hat mit seinen 1,88 m im Gegensatz zu Marciano eine ordentliche Größe fürs Schwergewicht. Doch seine körperlichen Voraussetzungen entsprechen eher dem eines Kung Fu Pandas, der knuffigen Animationsfigur Po, die nicht nur Kinder in aller Welt lieben. Ruiz sieht tatsächlich wie ein knuddeliger, übergewichtiger Junge aus, der selbst auch gar nicht versucht wie ein Bad Boy daherzukommen. Vielmehr zeigt der Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln bei öffentlichen Auftritten seine sanfte und kindlich anmutende Seite.
Vor dem Kampf gegen Joshua wurde er zudem belächelt, als er zugab, dass er nach einem bekannten Schokoriegel mit Erdnüssen und Karamell süchtig ist. Was aber viele bis heute nicht wissen ist, dass der 30-Jährige mit dem Deutsch-Ukrainer Alexander Dimitrenko einen Zwei-Meter Hünen aus dem Weg geräumt hatte, den er nur sechs Wochen vor dem Sieg gegen Joshua durch verletzungsbedingte Aufgabe bezwang. Auch Dimitrenko musste sich nach der Niederlage einiges anhören, wobei sich das öffentliche Interesse an diesem Kampf in Grenzen hielt und nur im Kern der Fan-Szene ein Thema war – eben kein Weltereignis wie Ruiz vs. Joshua. Box-Experten wussten aber da schon, dass The Destroyer boxen kann.
Ein sehr guter Boxer
German Fight News gehörte zu den wenigen Medien, die Ruiz immer eine Chance eingeräumt hatten, ihn gar boxerisch vor Joshua sahen und immer noch sehen. Für uns ist es auch nicht wichtig, wie ein Kämpfer aussieht, sondern vielmehr steht im Vordergrund, welche Skills der Athlet besitzt. So war es auch schon bei Canelo (Saul Alvarez), als die Fans mehrheitlich sicher waren, dass der rothaarige Mexikaner gegen den einstigen Dominator Gennady Golovkin keine Chance haben würde. Bei Ruiz Jr. aber reichten schon etwas Recherche und vier Videos von seinen Kämpfen aus, um zu wissen, dass da einer auf den Klitschko-Bezwinger aus England treffen sollte, der das Einmaleins des Boxens nahezu perfekt beherrscht und dazu Nehmerqualitäten von höchster Güte besitzt, die es auch braucht, um gegen eine menschliche Kampfmaschine wie Anthony Joshua bestehen zu können.
Joshua wird Ruiz nicht noch einmal unterschätzen
Ruiz hat das Zeug, Joshua erneut zu bezwingen. Am 7. Dezember wird er in Riad / Saudi Arabien (DAZN überträgt) auch besser vorbereitet sein als im ersten Duell, als er mit sehr kurzer Vorbereitungszeit als Ersatzkämpfer auf den Engländer traf. Aber das gilt ebenso auch auf Joshua, der nicht noch einmal Ruiz Jr. unterschätzen dürfte. Im ersten Kampf, als er schon zweimal Bekanntschaft mit dem Ringboden machen musste, wirkte der 30-jährige Sohn nigerianischer Eltern weiterhin übermütig. Im Rückkampf ist zu erwarten, dass Joshua versuchen wird, in bester Wladimir Klitschko-Manier den 10 cm kleineren Mexikaner in Schach zu halten und bei Gelegenheit auszuknocken. Aber genau diese Momente sind gefährlich, da Ruiz nur darauf wartet, um blitzartig zu kontern.
Und bekanntlich übersäuert Joshua mit Fortlauf der Rundenzahlen immer mehr, was seinen großen Muskelmassen geschuldet ist. Hier steckt auch diesmal die Tücke für ihn drin, denn idealerweise bezwingt er den kleineren Mann innerhalb der ersten fünf Runden durch Knockout, statt auf einen Punktsieg zu hoffen. Denn hinten raus hat der Liebhaber von Erdnussschokoriegeln sehr wahrscheinlich seine Vorteile.
Kein Typ für die Werbung, aber gut für die Menschheit
Rein technisch ist Ruiz Jr. sowieso der bessere Boxer, der aber nicht den Geschmack einer oberflächlichen Welt und der Werbeindustrie trifft. Viele Menschen wollen lieber eine Modeikone wie Joshua in der Werbung sehen, statt einem nicht der ”Norm” entsprechenden mexikanisch-stämmigen Ami, der sicherlich wenig dazu taugt, um Duschgel, Mode oder Fitnessartikel zu bewerben, aber mit absoluter Sicherheit vielen Menschen Mut macht, zu sich selbst zu stehen und sich als wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu fühlen, ohne alle nervigen Hiptster-Klischees erfüllen zu müssen.
Wir hatten es schon einmal geschrieben und bleiben auch heute bei jener Aussage: Andy Ruiz Jr. hat dem Boxen seine Seele zurückgegeben!
Von Attila
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