Chisora vs. Ussyk: Von falschen Propheten und der einen „einzigen Wahrheit“

KOMMENTAR

Mein Ärger nach Chisora vs. Ussyk

Endlich wieder Schwergewichtsboxen. So zumindest dachte ich heute Morgen, als ich mir auf DAZN die Wiederholung des Duells zwischen Oleksandr Ussyk gegen Derek Chisora ansah. Ich liebe das Schwergewicht seit meiner frühen Kindheit. Es versteht sich von selbst, dass ich als Vierjähriger keinerlei Ahnung vom Boxen hatte. Mit den Jahren und zahlreichen gesehenen Top-Kämpfen, schulte ich mein Auge. Die Fachliteratur erweiterte Wissen und das Training mein Verständnis.

Boxer und Trainer die besten Experten?

Ich hatte schon früh in der Jugend bemerkt, dass viele Experten in den Medien nicht immer etwas von Boxen verstanden. Viele kennen nur mehr Fachbegriffe als der gemeine Boxfan.

Mit den Jahren wurde mir auch bewusst, dass selbst die bekanntesten Boxer oder Trainer nicht automatisch die besten Experten im Analysieren von Kämpfen waren. Ihr werdet mir beipflichten, dass das für fast alle Sportarten gilt. In regelmäßigen Abständen ärgere ich mich auch über die Kommentatoren verschiedener Medien. Und was ich heute teils von Uli Ebel und seinem Experten zu hören bekam, verursachte bei mir teils Bauchschmerzen.

Boxen kein Fußball

Ich finde, dass Ebel als Kommentator beim Fußball einen sehr guten Job macht. Daran habe ich als Fußballfan nichts auszusetzen. Aber Fußball ist ein reiner Ergebnissport, der an Toren gemessen wird. Beim Boxen läuft das anders ab. Drei Punktrichter analysieren und bewerten das Geschehen im Ring. Das genau der Faktor, der zählt.  Die Punktrichter bewerten das Gesehene oder einer der beiden Kämpfer muss seinen Gegner vor Kampfende ins Land der Träume schicken. 

Boxkämpfe schwer zu werten

Und Boxkämpfe sind nicht leicht zu werten, besonders die schweren Gewichtsklassen nicht, da sich die Kämpfertypen stark voneinander unterscheiden. Ein Tyson Fury ist alleine durch seine immense Körpergröße prädestiniert für einen Kampf aus der Distanz und für das Taktieren mit der Führhand. Ebenso der US-Amerikaner Deontay Wilder. Das kann man von einem etwas gedrungenen Boxer wie Andy Ruiz Jr. nicht erwarten, da er die Reichweite nicht hat, um gegen zumeist größere Gegner den Takt vorzugeben.

Schnelle Beine und ordentlich Bums in den Fäusten

Ähnlich wie früher ein Mike Tyson, müssen diese Kämpfertypen schnelle Beine und idealerweise ordentlich Bums in den Fäusten haben. Ich erwarte von diesem Kämpfertyp auch mehr Körpertreffer, schwere Schwinger und öfter das Agieren am Mann, um sich der Reichweite des größeren Kämpfers zu entziehen.

10 Zentimeter sind eine kleine Welt

Jetzt war es zwar beim Duell zwischen Ussyk und Chisora nicht so, dass der Engländer mit seinen 187 zu 190 cm von Ussyk der deutlich kleinere Mann war, aber durch seine ordentliche Masse und geringeren Reichweite von 188 zu 198 cm nicht der Kämpfer sein konnte, der tänzelnd und leichtfüßig den Muhammad Ali im Ring geben konnte.

Zehn Zentimeter Reichweitenunterschied sind schon eine kleine Welt im Boxen. Im Kampf gegen den Ukrainer setzte der Engländer somit auf schwere Körpertreffer, mit denen er vor allem in den ersten vier Runden den ehemaligen Cruisergewichtler Ussyk ordentlich durchrüttelte. Aber auch sein unkonventionell ausgeführter Jab war ein probates Mittel, um den Ukrainer über die vollen Runden unter Druck zu setzen.

Ussyk startet spät in den Kampf

Erst ab der fünften Runde übernahm Ussyk, der dafür bekannt ist, gemächlich zu starten, das Zepter in die Hand. Die Beinarbeit und das Schlagrepertoire des Ukrainers sind eine Augenweide. Er zelebriert die alte russische Box-Schule, deren Stil sich in fast allen ehemaligen Staaten der zerfallenen Sowjetunion gehalten hat – auch in der Ukraine. Von diesem Ussyk erwarte ich auch genau das, was er gemacht hat. Allerdings muss er auch deutlich weniger Konter von einem langsameren Gegner mit geringeren Reichweite kassieren. Doch Chisora traf fortlaufend zum Körper und auch zum Kopf und war ungewöhnlich beweglich zu früher.

Parker, Ruiz Jr. und Kabayel

Ussyk, der als unumstrittener Cruisergewichts-Weltmeister aller vier bedeutenden Verbände ins Schwergewicht aufstieg – übrigens der bisher einzige Boxer im Cruisergewicht, dem das gelang – ließ sich zu oft treffen. Zu oft, um seine Ambitionen auch im Schwergewicht zu untermauern. Der Gewinner der Muhammad Ali Trophy dürfte mit der gezeigten Performance Probleme gegen die absoluten Spitzenleute im Schwergewicht bekommen. Auch wäre ich gespannt darauf, wie sich Ussyk gegen die erweiterte Spitze wie Joseph Parker, Andy Ruiz Jr. oder Aufsteiger Agit Kabayel machen würde. Das sind alles starke Kaliber. Und fast hätte ich den guten alten Alexander Povetkin vergessen. 

115 zu 113 international perfekt

Kommentator Uli Hebel und Experte Andreas Selak hatten praktisch nur Augen für Ussyk. Jeder Treffer und jede Kombination wurden besonders erwähnt, seine Beinarbeit, die wirklich hervorragend ist, immer wieder hervorgehoben. Und was mich aber besonders stutzig machte, war das Unverständnis der beiden über zwei Punktrichter, die jeweils mit 115 zu 113 für Ussyk gewertet hatten. Ja, der Ukrainer ist eine Augenweide. Er kann boxen und ist sogar einer der besten Boxer in den höchsten Gewichtsklassen. Es ist ihm auch Zuzutrauen, dass er im Schwergewicht weit kommt, aber dafür muss er von Anfang an da sein und nicht ab Runde fünf oder sechs anfangen selbst die Initiative zu ergreifen. So etwas kann im Schwergewicht schnell in die Hose gehen. Die 115 zu 113 waren international perfekt gewertet. 

Sieg von Ussyk geht vollkommen in Ordnung

Ich hatte Ussyk wie erwähnt ab der fünften Runde aktiv auf dem Zettel, in den ersten vier Runden Chisora dreimal klar und einmal knapp gehabt. Insgesamt habe ich klare Runden bei Chisora vier und Ussyk fünf Runden gezählt. In vielen weiteren Runden sah meistens der Ukrainer stilistisch besser aus, aber es waren keine glasklaren Runden von ihm dabei. Es war der stetige Kampf um die Gefechtskontrolle beider Kämpfer, die aber keiner von beiden signifikant erlangte.

Chisora der aktivere Boxer

Trotzdem: Der Sieg von Ussyk geht vollkommen in Ordnung. Ein verdienter Sieg, aber nicht so klar wie es beide Herren gerne gesehen hätten. Die 117 zu 112 von dem einen Punktrichter sind der absolute Idealverlauf für Ussyk. Das sind Runden, die man ihm wohlwollend geben müsste, wenn man die Gewichtung der Punktvergabe auf saubere und schöne Aktionen wie beim Amateurboxen legt. Dort würde man den vielen Jabs und Körpertreffern Chisoras keine Bedeutung beimessen. Im Profibereich schon. Bei den Amateuren sieht die Sache komplett anders aus. Da zählen die klaren Treffer zum Kopf.  Aber beim Profiboxen auf internationaler Ebene ist es auch wichtig, wer nach vorne geht und versucht den Kampf zu machen. Hier war Chisora über die vollen Runden gesehen der aktivere Boxer.

Profiboxen kein Amateurboxen 

Profiboxen ist kein Amateurboxen, aber genau hier liegt bei uns Deutschen oft der Hund begraben. Wir werten Boxkämpfe im Profibereich wie bei den Amateuren. Ein Sven Ottke oder ein Henry Maske haben uns in der Vergangenheit mit ihren Kämpfen die Sinne benebelt. Beide waren sehr gute Amateure, aber keine schlagstarken Boxer. Trotzdem waren beide auch Weltmeister bei den Profis und bekannt für ihre Auftritte über die vollen Runden. Am Ende gewannen sie gegen handverlesene Gegner nach Punkten, die sie aber teils in den USA niemals gewonnen hätten. Solche Kämpfe nennt man scherzhaft “Box-Fechten”, eine “Disziplin”, die es so nur in Deutschland gab. Und genau durch solche Auftritte sind wir Deutschen teilweise verdorben worden. Wir zählen brav jede noch so leichte Berührung an den Kopf als Punkt, während man in Übersee bei solchen Aktionen nicht einmal den kleinen Finger  hebt. 

Chisora mit guter Kondition

Aber zurück zum zum Kampf. Hebel und Selak redeten nach Runde fünf fortlaufend darüber, dass dem Engländer langsam aber sicher die Puste ausgehen würde. Die Wahrheit ist aber, dass ich konditionell noch nie so einen fitten Chisora gesehen habe. Er konnte die 12 spannenden Runden mühelos mitgehen. Natürlich wurde er ab der Mitte des Kampfes müder, aber nicht signifikant und wie erwähnt, wurde Ussyk, typisch für ihn, ab Runde fünf aktiver und somit ging das Übergewicht an Aktionen von Chisora verständlicherweise verloren.

Von Propheten und selbst ernannten Experten 

Was mich aber besonders ärgerte ist, dass Hebel seine Meinung irgendwie als die einzige Wahrheit hinzustellen schien. Zumindest war das heute Morgen mein Gefühl. Er sprach von selbsternannten Experten im Netz, ohne ins Detail zu gehen. Ob er die Fans oder uns Journalisten meinte? Gefährlich in der heutigen Zeit, Fans und Kollegen die Fähigkeit abzuerkennen, einen Kampf werten zu können und sich damit als einzigen Propheten hinzustellen. Doch Vorsicht, das erleben wir aktuell auf politischer Ebene, wo nur noch selbsternannte Propheten meinen, jegliche Wahrheiten zu kennen. Das ist aber eine andere Geschichte.

Hebel sollte nicht vergessen, dass die Fans sein Gehalt finanzieren und vielen kleineren Portale die Kämpfe im Vorfeld promoten. 

Aber wie sagen wir bei German Fight News so schön: Keine Politik, nur Kampfsport.

Wir haben in der Box-Szene viele fähige Leute, die teils seit 60 Jahren den Boxsport in- und auswendig kennen und es verstehen, einen Kampf in seine Einzelteile zu zerlegen und zu analysieren. Der Boxfunktionär Jean-Marcel Nartz ist so einer, der das gut kann und meistens weiß, wovon er spricht. 

Die Wahrheit von fast allen Dingen liegt in der Mitte, vor allem im Boxen, wenn zwei Parteien etwas anders sehen.

Halten wir aber fest, dass Ussyk verdient gewonnen hat, aber noch Luft nach oben hat. Chisora hat allerdings nach dem Kampf etwas gesagt, dass den Nagel auf den Kopf trifft, nämlich das man im Schwergewicht nicht nur boxen, sondern auch kämpfen können muss. 

Wenn Ussyk die “Weisheit” von Chisora beherzigt und ab der ersten Runde anfängt zu performen, ist er schneller Weltmeister, als man glaubt. Boxerisch können ihm im Schwergewicht nur die wenigsten das Wasser reichen, kämpferisch muss er aber noch zulegen. 

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